Tödliche Überstunden

Tödliche Überstunden

Ein Rätselkrimi von Roger Graf.

Matter stapfte durch die dünne Schneedecke und näherte sich dem Bürogebäude, das inmitten des Industriegebiets stand. Es war kurz nach Mitternacht, die Gegend wirkte wie ausgestorben, wäre da nicht der Einsatzwagen der Polizei gewesen, in dem ein Beamter sass und telefonierte. Matter erfuhr von ihm, dass der Tote im vierten Stock lag, Büro 36b, ein Angestellter der Firma Mikrotop, Computersoftware und Netzwerktechnologie.

Matter ging die Stufen hoch und warf jeweils einen kurzen Blick auf die Glastüren und die Beschriftungen. Zwei Stockwerke waren nicht vermietet, die Rezession hatte viele Bürogebäude leer gefegt. Im vierten Stock traf er auf Leutenegger von der Spurensicherung, ein Riese, neben dem sich Matter nie richtig wohl fühlte, weil er es hasste, ständig zu jemanden hochschauen zu müssen. Leutenegger begrüsste ihn jovial. Wenigstens machte er keine Witze, wie viele Kollegen, wenn sie sich mit dem Tod konfrontiert sahen.

«Der Mann heisst Fritz Spiller. Er ist mit einem Messer erstochen worden. Vermutlich vor etwa zwei Stunden. Ein Wachmann hat die Leiche gefunden, als er durch das Gebäude patrouillierte.» «Was für eine Funktion hatte der Tote in der Firma?» «Stellvertretender Geschäftsführer» «War sonst noch jemand in der Firma?» Leutenegger blätterte in einem kleinen Notizbuch. «Bis etwa 21 Uhr waren drei weitere Mitarbeiter in der Firma. Der Buchhalter Zehnder, der Geschäftsführer Wildbolz und die Sachbearbeiterin Frau Kündig.» «Wird in dieser Firma immer so spät gearbeitet?» «Offenbar ist die Firma in grossen finanziellen Schwierigkeiten. Um an Aufträge zu kommen, wurde knapp kalkuliert und in Rekordzeit geliefert.»

«Kann ich die Leiche sehen?» Leutenegger nickte und führte Matter ins Büro Nummer 36b. Die Leiche lag am Boden zwischen dem Schreibtisch und einem Aktenschrank. Auf dem Fussboden entdeckte Matter eine Spielzeugeisenbahn, die sich in Schlangenlinien durch das ganze Büro wand. «Der Tote hat zu Lebzeiten damit gespielt», sagte Leutenegger lächelnd. Matter stieg über die Schienen und näherte sich der Leiche. Neben der linken Hand des Toten entdeckte Matter ein aus Blut geformtes Kreuz. Leutenegger nickte, als ihn Matter darauf ansprach.

Seltsames Zeichen

«Sieht ganz danach aus, als habe der Sterbende dieses Kreuz gemalt. Vielleicht wollte er der Polizei einen Hinweis auf den Täter geben?» «Kann sein», sagte Matter. «Weshalb aber ein Kreuz? Oder ist es ein Pluszeichen? Vielleicht wollte er seinen Mitarbeitern mitteilen, dass die Firma wieder in den schwarzen Zahlen ist.»

Matter schauderte es bei dem Gedanken, dass Beamte wie Leutenegger eines Tages Karriere machen könnten. Matter kratzte sich an der Stirn und starrte auf das blutrote Zeichen. «Es könnte auch ein X sein», sagte er mehr zu sich selber. «Das macht noch weniger Sinn.» Leutenegger hatte nicht oft mit Matter zu tun, und er war froh darüber. Dieser kauzige Kommissar, dem man ansah, dass er gerne etwas über den Durst trank, war ihm nicht ganz geheuer.

Beharrlichkeit schätzte Leutenegger nicht besonders, vor allem nicht die Beharrlichkeit Matters, der manchmal stundenlang am Tatort herumstand, sich und seine Umgebung scheinbar völlig vergass, um dann plötzlich eine dieser seltsamen Fragen zu stellen, die Leutenegger trafen wie ein verirrtes Snowboard auf einer Skipiste. Leutenegger schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr. Soll er doch, dachte Matter. «Wir sind gleich fertig mit der Spurensicherung. Der Leichenwagen wird auch gleich hier sein.»

Dem Täter auf der Spur

Leutenegger spürte einen leichten Druck in seinem Magen. Nur nicht aggressiv werden jetzt, sagte er sich. Wenn ich Karriere machen will, darf ich mich nicht durch Menschen wie diesen Matter beirren lassen. «Vielleicht spürte er, dass er nicht mehr viel Zeit hat», sagte Matter. «Wer?» fragte Leutenegger. «Der Tote», sagte Matter. «Und deshalb hinterliess er uns ein Kreuz?» «Oder ein X», sagte Matter. «Wie, sagten Sie, heissen die drei Mitarbeiter, die bis 21 Uhr Überstunden machten?»

Leutenegger blätterte in seinem Notizbuch und nannte noch einmal die Namen. «Soll ich die drei hierher bestellen?» Matter schüttelte den Kopf. «Nur den Buchhalter. Darf ich das Telefon benutzen?» «Kein Problem», sagte Leutenegger. Matter klingelte den zuständigen Bezirksanwalt aus dem Bett. Leutenegger schüttelte den Kopf, als er hörte, dass Matter einen Haftbefehl verlangte. Jetzt spinnt er, dachte Leutenegger. Doch Matter lächelte zufrieden, als er den Hörer auflegte.

«Hatten Sie nie Latein in der Schule, Leutenegger?» Diese Frage wiederum kam Leutenegger spanisch vor.

 

Weshalb glaubt Kommissar Matter den Täter bereits zu kennen?